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Dem Alltag entrissen: Wadim Guschtschins und Johannes Galerts neue Fotozyklen

Elmar Zorn, 2007
Härter, reduzierter lassen sich Gegenstände fotografisch nicht erfassen als in Wadim Guschtschins Stilleben. Demgegenüber stellen sich die rationalistischen Experimente der Bauhausfotografie etwa Laszlo Moholy-Nagy und Xanti Schawinski – oder die Neue Sachlichkeit eines Aleksandr Rodcenko als geradezu pathetisch dar. Waren es früher noch Objekte, die eine Welt in sich bargen als pars pro toto deren Ordnung standen ( wie „Das stille Leben im Regal“, Moskau 1998 und „Meine Dinge, Braunschweig/ Moskau 1999 ), oder für die Reinigungsrituale unserer Zivilisation ( wie „Geometrie der Hygiene“, Düsseldorf 2004 ), und dem Betrachter entsprechende Assoziationsfelder nahelegten, in dem hier im Fotomuseum von Nishnij Nowgorod präsentierten Arbeiten bleibt jedes Kleidungsstück, jeder Gegenstand Chiffre seines Gebrauchs und wird nicht Anstoß für Metapher-ketten. Die von unten aufgenommenen Schuhsohlenprofile in verschiedenen Graden ihrer Abnutzung und die erkennbar verwendeten Schuhpaare, die über den Stuhl geworfenen Jeans mit und ohne Gürtel, die Wildlederjacke von hinten mit herausragendem Bügelhaken und die schwarzglänzende Leder-jacke am Stuhl, die Strickweste und schließlich die auf dem Brett stehenden Schachteln erzählen keine Geschichten, sondern stecken ein Terrain ab im Archiv menschlicher Spuren, in der fotografi- schen Alltagsarchäologie des Künstlers Wadim Guschtschin. Keine lokalisierte Umgebung gibt einen Hinweis auf narrative Bezüge zum Raum oder zur Herkunft der Objekte. Lediglich die Spuren des Gebrauchs bezeugen in ihrer radikalen Isolierung von jeglichen Kontext die existentielle Konstanz eines persönlichen Umgangs mit den Gegenständen, also den Stücken des täglichen Gebrauchs, der bereits in der Ausstellung „Personalismus der Dinge“, 2003 im Kultur Bahnhof Eller Düsseldorf reflektiert worden war. Neu ist, dass die Zeichenhaftigkeit stark intensiviert und fokussiert erscheint und die dunklen Grau- und Schwarztöne der Objekte, die sich kaum vom amorphen Hintergrund abheben, zu einer Verdüsterung beitragen bis der Betrachter seinen Blick als ausgesetzt registriert und abgeschnitten von emotionalen Verknüpfbarkeiten. Insofern funktioniert die fotogarfische Methode in Wadim Guschtschins Kleider- Garderoben- Stilleben, dieser Konstruktion stillgelegter anonymer Accessoires wie ein philosophisches Axiom zur Frage „Was ist er- der Alltagsmensch?“

Die gleiche Frage könnte auch angesichts der Brustbilder-Porträts von Johannes Galert gestellt werden Bei diesem Fotografen, dem 1954 bei Katharinenburg geborenen, im Vergleich zu Guschtschin 9 Jahren älteren, heute in Düsseldorf lebenden Kollegen, ist sie ganz anders beant-wortet, wohl seinem Doppelberuf als Fotokünstler und als Fotoreporter geschuldet. Zwar legen auch bei Galert Kleider - militärische und zivile Uniformen und Kopfbedeckungen - Menschen fest, doch nur zu einem Teil. Der andere Teil konstituiert sich in den Gesichtszügen, wobei der Künstler den Betrachtern seiner Arbeiten hilft in denen seiner Porträts deutscher und russischer Männer lesen zu können: in der Pokerface-Miene des elegant uniformierten Parkhotel-Empfangschef südlicher Prägung, im Weihnachtsmann-Ausdruck des älteren Baden-Württemberger Polizisten in 2 diversen Situationen, mit und ohne Hintergrund, denen des durch zwei ähnliche Fotos wie in einer Bewegung verdeckten und aufblickenden Lodenmantel- und Lodenhutträgers, dem Charakterkopf und Hütchen eines Sonderlings und der stilisierten Pose eines jungen Dandy mit Pelzkragen und Melonenhut. Die Züge der russischen Uniformierten strahlen wie die der deutschen Porträts eine direkte, hoch appellative Energie der Kommunikation mit dem Betrachter aus, die einzufangen dem Künstler in besonderem Maße gelungen ist. Da ist das reine, unschuldige Gesicht eines jungen Kadetten, die verbrauchten Züge eines abgetakelten Matrosen, die verschlossenen Miene eines alten Marine- kapitäns, der erloschene Blick eines Kriegsveteranen in schmucker Uniform, der maskenhaft selbstbewußte Ausdruck eines offensichtlich vom Land in die Stadt angereisten Bauern sowie die feierlich statuarische Haltung des Trägers einer reich bestickten Stammestracht mit Pelzmuetze Galert versammelt sie in ihren Uniformen als Exponenten eines Typus – zugleich mit individueller Aura als auch in ihrer soziologischen Zugehörigkeit. Alle eint sie, dass ihr von der Uniform bezeichneter beruflicher Typus eine nicht eine selbstverständliche, sondern eine angenommene und als solche in den Alltag hinüber gerettete Identität ist: der Kadett als noch nicht, der Matrose, Kapitän als nicht mehr militärisch Zugehöriger, der Bauer als die Unsicherheit eines seine Entwurzelung Überspielender, und schließlich der die Volkstracht Tragende in seiner Traum- kleidung. Sogar wenn diese Lesarten nicht stimmen sollten, so interessiert es uns Betrachter solches zu entschlüsseln, anders gesagt: diese Gesichter packen uns und machen uns neugierig. Anders als die Porträts der Berufsstände bei August Sander, der in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts mit seiner berühmten Serie „Menschen des 20.Jahrhunderts“ exemplarisch unternommen hatte, die Typologie der Menschen festzuhalten, auch anders als bei den für jegliche zeitgenössische Dokumentationsabsicht maßgebenden fotografischen Ansätze von Bernd und Hilla Becher ist es dieser das zutiefst Menschliche mit künstlerischen Mitteln herausholende Blick des teilnehmenden Fotografen, der fasziniert. Dass einer wie Galert sich von der Präsenz seiner deutschen Kollegen Ruff, Gursky und Tillmanns nicht blockieren lässt und auf seine eigene Weise dem Alltag die Bilder entreißt, so wie Guschtschin die russische Fotografie nicht bei Rodcenko aufhören lassen will, macht Hoffnung, dass in der europäischen Kunst Vielfalt und Qualität sich ergänzen, nicht ausschließen.